Einweihung des Mahnmals für die Opfer der NS Wehrmachtsjustiz in Torgau
Meine Damen und Herren,
eine liegende – tote – männliche Gestalt und eine stehende – trauernde – Frau, so die Bildformel, die Thomas Jastram für die Gedenkstätte in Torgau gefunden hat. Ist es ein Paar? Sind es Bruder und Schwester? Und bevor wir über den Künstler und seine bestimmte Formauffassung reden, müssen wir über die Bildformel und ihre Implikationen reden – und vor allem darüber, wie Kunst funktioniert? Die letzte Frage mag Sie überraschen, aber es ist die Kernfrage. Die Auftragsvergabe war ja mit einem Anspruch verbunden – und die Lösung muss immer auch in Beziehung zu diesem Anspruch gedacht werden.
Und schon befinden wir uns mitten in einer sehr grundsätzlichen Debatte über Denkmäler im 21. Jahrhundert.
Oder präziser: über Denkmäler in Demokratien des 21. Jahrhunderts. Für wen macht man ein Denkmal? Der Fürst und der Diktator haben es da einfach: „für mich“. Die Aussage – egal ob historisch, aktuell politisch oder utopisch, ist direkt mit dem Auftraggeber verbunden. Denkmäler in Demokratien funktionieren da anders. Es ist nicht eine Person oder ein Machtgefüge, das dieses „für mich“ einfordert, sondern eine Vielzahl von Bürgern, vor allem – und da wird es interessant – von der Betrachterseite.
Man kann ein Kunstwerk ohne Weiteres beschreiben als einen Gegenstand, der inhaltlich von mehreren Seiten Druck bekommt. Der Künstler will etwas, der Auftraggeber will etwas und der Betrachter will etwas. Alle sehen etwas in diesem Werk – wollen etwas davon. Aber nur in der Demokratie kommt der meiste Druck vom Betrachter. Aus der Gesellschaft. Vor allem wenn es sich wie hier um ein Opferdenkmal handelt.
Nun ist es für einen Künstler relativ einfach, sich auf die Wünsche eines Auftraggebers einzulassen.
Es ist aber unmöglich, sich auf die Wünsche eines ihm nicht bekannten Publikums einzulassen.
Oder besser auf die zukünftigen Erfahrungen dieser nicht bekannten Betrachter. Die vorherrschende Strategie ist dann ein möglichst „offenes“ Kunstwerk zu schaffen. In ein solches offenes Kunstwerk kann man alles hineininterpretieren, man kann alles „hineinlegen“, aber als Denkmäler funktionieren sie nicht. Sie bleiben leer.
Wir nähern uns dem nächsten Problem, denn das Gestalten von Denkmälern ist ein Minenfeld. Und wer das Minenfeld versteht, versteht die Lösung von Thomas Jastram. Denn mit der Demokratie ist noch ein zweiter Aspekt für die Kunst verbunden. All diese Betrachter haben ihre eigenen Ideen, ihre eigenen Geschichtsvorstellungen, ihre eigenen Zukunftsfantasien und was wir in der gesellschaftlichen Diskussion inzwischen als „multiple Identität“ beschreiben, ist bei näherer Betrachtung der gesellschaftliche Normalfall: Man nannte es früher Individualität.
Der amerikanische Historiker James Young hat es in einem grandiosen Buch brutal auf den Punkt gebracht. Denkmäler reduzieren die historische Individualität der Opfer. Sie werden zum Teil einer Gruppe – ungeachtet, ob sie dazu gehören wollten. Und gerade wenn wir über einen Unrechtsstaat
sprechen, dann sollte man sich dessen bewusst sein.
Hier setzt Thomas Jastram an und führt eine ganz besondere europäische Bildformel ein. Der einzelne Mensch als Stellvertreter für eine Gruppe. Nicht ein bestimmter Mensch – es gibt keinen Verweis auf einen bestimmten Toten, etwa ein Porträt – aber dennoch eindeutig ein individueller Mensch.
Aus irgendwelchen Gründen wurde dieser individuelle Mensch umgebracht und um ihn wurde getrauert.
Und diese Trauer wird nicht nur von seiner Gruppenidentität, sondern von seiner Individualität bestimmt. Indem er sich auf die europäische Tradition beruft, hebelt Jastram einen Mechanismus aus, der Opfer zu bloßen Opfern macht und sie damit auch über ihren Tod hinaus instrumentalisiert.
In Jastrams Entwurf spielt das Menschliche eine vordergründige Rolle, das Wissen, dass Menschen, diese Bildidee verstehen können und werden. Figürliche Bildhauerei mag im Kunstmarkt zur Zeit nicht besonders en vogue sein, aber wenn es darum geht, Denkmäler zu schaffen, die – dem Wort nach – zum Denken anregen, dann hat sie die besten und effektivsten Mittel. Ihr Fundus an Bildern ist nämlich nicht die der Kunstzeitschriften, sondern die der gesamten Kunst- und Kulturgeschichte. Und genau das ist wichtig, nicht wenn es darum geht Auftraggeber zu überzeugen, sondern ein zukünftiges Publikum zu konfrontieren.
Das wird vielleicht sagen, „ach das sieht altmodisch aus“, aber es wird verstehen worum es geht.
Thomas Jastram repräsentiert eine bestimmte Auffassung von figürlicher Bildhauerei, die immer beim individuellen Leben anfängt. Aus Modellstudien heraus wird eine plastische Form entwickelt und diese Form erinnert im nächsten Schritt wieder an den Menschen. Das heißt: es ist keine Naturnachahmung, es ist im wortwörtlichen Sinne ein Urbild. In Lessings Laokoon, einem der wichtigsten Texte der europäischen Tradition, ist die Rede von einem Gegensatz zwischen dem Nachbild und Urbild. Und während ein Nachbild eine Kopie der Wirklichkeit ist, ist ein Urbild etwas Tieferes: eine Abstraktion, die aber an Wirklichkeit erinnert.
Die Gruppe kann auf zwei Ebenen als ein solches Urbild beschrieben werden: erstens auf der Ebene der Gestaltung der einzelnen Figuren, bei denen aus dem Naturstudium eine Abstraktion entwickelt wurde, die mehr den bildhauerischen Gesetzen als denen der Natur gehorcht und zweitens auf der Ebene der Gruppengestaltung, da die Gruppe als ein Urbild für Trauer stehen kann, und genau da müssen wir die Frage stellen, wie zukünftige Generationen diese Figurengruppe interpretieren werden.
Die besondere räumliche Konstellation, bei dem der Zusammenhang zwischen männlicher und weiblicher Gestalt sich jeweils auch der Perspektive anpasst, hat zur Folge, dass sich der Akzent der Gruppe wandelt: Betont wird jeweils das Opfer oder die Trauernde. Er wurde aus bestimmten Gründen umgebracht, sie lebt weiter. Geht es um ihn, geht es um sie? Es geht auch um individuelles Gedenken, das sich immer wieder neu konstituiert.
Es ist ja keine ekstatische Trauer in dieser weiblichen Figur, sondern eine verhaltene milde Trauer.
Keine große Geste, sondern ein zurücknehmen der Emotionen. Auch dies war einmal sehr europäisch, obwohl wir dies in unserer aufgeregten Zeit sehr leicht vergessen. Jastram drückt Schmerz ohne großes Pathos aus und damit kreiert er eine Situation des Nachdenkens. Was macht die Frau, was bedeutet ihr Gestus? Und genau da öffnet sich das Kunstwerk, nicht im Sinne der besprochenen Leere, sondern dahingehend, dass es beim Betrachten zum Nachdenken und zum Fühlen anregt. Das Werk handelt von individuellem Tod, Schmerz und Trauer.
Es steckt sehr viel Europa in der Bildfindung von Thomas Jastram.
Rede anlässlich der Einweihung des Mahnmals für die Opfer der NS Wehrmachtsjustiz in Torgau,
Fort Zinna, Mai 2010